35 Jahre Mauerfall, 35 Jahre Gewinn der Freiheit
Es ist irgendwann im Januar 1990. Ich bin 29 Jahre und sitze das erste Mal in einem Interzonenzug. Alles ist irgendwie unwirklich, die Fahrkarte in den Westen, die Zugfahrt über die Grenze an der bis vor wenigen Wochen noch geschossen wurde und die DDR-Zöllner alles andere als freundlich. Im Gepäck eine große Altarkerze, gekauft auf der Moritzburger Straße in der Drogerie Rau in Radebeul, im Reisegepäck das Symbol, unser Symbol der friedlichen Revolution, eine Kerze. Diese Kerze wollte ich mitnehmen bei meiner ersten „Westreise“, bei meiner ersten Reise zu bisher unerreichbaren lieben Freunden. Bei dieser Reise habe ich für mich das Wort „Freiheit“ oft buchstabiert. Und ich muss jetzt immer wieder daran denken, wenn heute am Montag vor dem Moritzburger Rathaus Kerzen aufgestellt werden und wieder von Unterdrückung, Bevormundung, gleichgeschalteter Presse und Staatsdoktrin gesprochen wird. NEIN, da haben manche möglicherweise vergessen was in der die DDR die Staatsdoktrin bedeutete. Ich durfte nicht aufs Gymnasium (damals EOS) und somit nicht studieren, weil ich nicht in der FDJ war und ausschließlich Konfirmand, die Presse unterstand komplett einem Ministerium des DDR-Apparates, bei Wahlen fast 100 % Zustimmung zu den Kandidaten der Nationalen Front in der neben der SED auch die CDU fester Bestandteil des Systems war. Freie Wahlen in der DDR bei nur einer Liste - Fehlanzeige. Konzerte meiner geliebten Rockbands in der Berliner Waldbühne oder in Hamburg, aussichtslos. Baden im Mittelmeer, Besuch der Pyramiden von Gizeh, die Freiheitsstatue in New York, bestenfalls Bilder aus den Sachbüchern oder aus einer Doku im Tal der Ahnungslosen. Wie war das damals mit der Freiheit? Oft kommen mir Erinnerungen und Bilder aus meinen Lebensjahren bis 1989. Ich spielte in der kirchlichen Band „Quo Vadis“. Im relativ geschützten Raum unserer Kirche (Geheimdienstverbrecher der Stasi waren überall) konnten wir die Musik spielen die uns wichtig war, Lieder von Biermann oder Bettina Wegner, kritische Texte aus Westbüchern, klare Kante gegen Armee und Wehrkunde. Hinter Kirchenmauern möglich, aber schon auf der Straße zeigte die Staatsmacht wer das Sagen hat, wer bestimmt was Freiheit ist. Auf der Heimfahrt von meiner damaligen Arbeitsstelle holte mich ein Volkspolizist von der Kreuzung in Radebeul Meißner Straße / „An den Linden“ von meiner Simson Schwalbe (Lastenfahrräder gab es damals noch nicht, sind mir aber genauso lieb), denn der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ war dem Staat ein Ärgernis, Freiheit in der DDR – Fehlanzeige. Eine Einladung an die POS Moritzburg zum Besuch unserer Anne Frank Ausstellung in der Moritzburger Kirche, von einer straffen und linientreuen Pädagogin mit der Bemerkung abgelehnt, ein sozialistischer Pionier geht nicht in die Kirche. Freiheit in der DDR – Fehlanzeige. Ein Staatssystem auf Lügen von Lügnern aufgebaut, mit der Waffe, mit brutaler körperlicher und psychischer Gewalt am Leben erhalten und Gott sei Dank mit den Kerzen der friedlichen Revolution zu Grabe getragen. Jeder und Jede von uns kann überlegen wo er, wo sie 1989 stand, an welchem Rädchen der Friedlichen Revolution wir mit gedreht haben um die Freiheit zu gewinnen. Gemeinsam mit vielen Moritzburgerinnen und Moritzburgern haben wir uns Mut gefasst und das „Neue Forum Moritzburg“ gegründet. Ganz viele Aktionen wurden in diesen wenigen Monaten ins Leben zu rufen. „Gebete für unser Land“, dass war damals das erste öffentliche Forum für die Freiheit in der Moritzburger DDR. Menschenketten, spontane Besuche in Moritzburger Stasiobjekten, Flugblätter gegen Wehrkunde und erneute Vorteilsnahme durch ehemalige DDR-Kader aus der SED und den sogenannten Blockparteien, ganz neue Bildungskonzepte, werben dafür, dass der Kriegsdienst der NVA in unseren Schulen nichts zu suchen hat. Wir wurden in den wenigen Monaten 1989/1990 immer mehr, die für die Freiheit des Landes, für unsere Freiheit kämpften. Stellvertretend für ganz viele Andere Akteure möchte ich unseren damaligen Moritzburger Pfarrer Frieder Merkel benennen. Es hat sich jede Minute des Aufbegehrens, jede Minute auch der Angst, jede Minute in denen wir gemeinsam aktiv für die Freiheit friedlich gekämpft haben, jede Minute hat sich gelohnt. Und ich denke noch einmal an die Ankunft des Interzonenzuges. Bruder Karl, ein ganz lieber Freund von der Christusträgerbruderschaft mit der wir über viele Jahre über die Grenze hinweg einen regen Austausch hatten, holte mich in Würzburg vom Bahnhof ab. Mit meiner Kerze aus Radebeul im Gepäck kam ich im Kloster Triefenstein an und habe zur ersten Abendandacht in der dortigen Klosterkirche meine Freiheitskerze angezündet. Was ist für mich der größte Gewinn der Freiheit? Ich habe im Laufe der 35 zurückliegenden Jahre unzählige Menschen in Deutschland, aber auch in anderen Teilen unserer Welt kennengelernt, für die Freiheit das größte Geschenk unserer Menschheit ist. Sicher bedeutet das auch, den Freiheitsbegriff der Anderen auszuhalten. Aber es ist allemal besser in Freiheit zu leben und die Freiheit gemeinsam zu schützen als wieder ins finstere Gestern der Diktaturen, der Despoten und der Revanchisten zurückzufallen.
Jörg Hänisch Moritzburg