Santiago de Compostela 3122 km ist in einem Garten der Niederlößnitz zu lesen, die Familie gehört der Friedenskirchgemeinde an und ist an das Grab des Apostels Jakobus gepilgert. Der erste offizielle Hinweis auf den sächsischen Jakobsweg findet sich übrigens an der Fähre in Kötitz.
Das Pilgern war über die Jahrhunderte hinweg mit dem Gedanken verbunden, man könne so Gott barmherzig stimmen, Vergebung der Sünden erlangen. Die Evangelische Kirche hat das immer schon anders gesehen, Versöhnung bewirkt für uns allein der Glaube. Und doch sind in diesen Tagen viele Angehörige unserer Konfession auf den Jakobswegen unterwegs, die Europa durchziehen. Wie es ja überhaupt ein staunenswertes Phänomen ist, dass trotz der Säkularisierung aller Lebensbereiche die uralte Übung des Pilgerns gegenwärtig eine Blütezeit erlebt. Das hat zumeist andere als religiöse Gründe und ist wohl in den Lebensbedingungen einer Leistungsgesellschaft zu suchen, in der viele Menschen unter permanentem Druck stehen. Es kostet Kräfte, sich zu behaupten und den vielfältigen Anforderungen zu entsprechen, nicht nur in beruflichen Zusammenhängen. Am ökonomischen Denken orientierte Verhaltensweisen finden sich in allen Lebensbereichen, auch im Privaten werden Relationen von Kosten und Nutzen wichtig. Permanent Leistungen erbringen zu müssen überfordert aber am Ende jeden Menschen, und darüber ist der „burn-out“ zu einer massenhaften Erscheinung geworden, auch Angststörungen nehmen unaufhaltsam zu. Die Renaissance der Pilgerwege ist als Ausdruck eines Unbehagens zu verstehen, einer Gegenbewegung - man möchte Abstand von den Zwängen des Alltags gewinnen, anders leben und den Kopf frei bekommen für das, was wirklich zählt im Leben.
Tatsächlich – eigene Erfahrung! - bringt das ausdauernde Gehen Körper und Geist zusammen. Es geschieht eher beiläufig, nicht als „Produkt“ eines Bemühens oder einer ausgeklügelten Strategie, sondern ganz von allein, „beiläufig“, unterwegs. Denn nachdem die ersten Beschwerden der ungewohnten Bewegung überwunden sind, finden die Füße ihren Weg, die Arme schwingen mit, Herz und Lunge haben ihren Takt gefunden, es stellt sich ein Rhythmus ein, die Geschwindigkeit ergibt sich ganz von allein … der Wanderer fühlt, dass es gut so ist und hilfreich. Und entdeckt, wie die Gedanken beginnen, sich ohne störende Einflüsse frei zu bewegen. Ereignisse aus der Vergangenheit tauchen auf, nun in neuer Perspektive; gegenwärtige Herausforderungen werden durchsichtig; eine Lösung erkennbar, nach der schon lange gesucht wurde; vertraute Melodien klingen an. Die verborgene Verbindung von Körper und Geist wird spürbar wird durch Bewegung; nicht nur der Organismus, auch die Seele wird auf der Wanderschaft gestärkt. Darüber kann das Gehen zu einer geistlichen Erfahrung werden, und dann ist es sinnvoll und treffend, vom Pilgern zu sprechen. Wenn es nicht um religiöse Leistung geht, sondern um die Hoffnung, dass der Blick sich weitet, Störendes nicht länger die Sicht verstellt und das Gottvertrauen wächst. Nicht der Weg ist das Ziel, Christus ist das Ziel unserer Wege.
Landesbischof i.R. Jochen Bohl