Freimut: Ein Pilgerweg ist etwas ganz anderes als normale Wanderwege.
Am dritten Morgen wollten wir noch einmal zu der Kirche zurückgehen, die wir schon abends im warmen Licht der untergehenden Sonne gesehen hatten, um dort unseren Tagesbeginn zu machen. Zurück?! Wir waren noch keine hundert Meter gegangen, da rief uns freundlich aber bestimmt ein älterer Herr über seinen Gartenzaun zu – und zeigte dabei in die entgegengesetzte Richtung: „O caminho é aqui!“ – der Weg geht dort entlang!
Das Besondere an einem Pilgerweg ist, dass er nur eine Richtung hat. Die Markierung an Masten, Mauern etc. ist nicht etwa ein farbiger Balken – sondern ein Pfeil. So ist er auf eine Weise auch Sinnbild für den Lebensweg. Und so hat auch der Gruß, mit dem Pilger sich gegenseitig aber auch viele Portugiesen und Spanier die Pilger grüßen, einen weiteren Horizont: „Bom caminho! Buen camino!“ – einen guten (Pilger- und Lebens-)Weg!
Maren: „Gehen – innehalten – gehen“, so bringe ich das Pilgern meinen Konfis bei. Und das durften wir auf unserem Pilgerweg praktizieren. Fast an jeder Kapelle hielten wir inne. Selten erlebten wir eine offene Kirche. Aber wenn, dann genossen wir die Zeit in ihr. In der Klosterkirche Armenteira war die Akustik so wunderbar, dass wir unsere Blockflöten auspackten und Taizé-Lieder spielten. Eine Frau setzte sich schräg hinter uns. „Ich habe schon viele Pilgererfahrungen auf meinem ersten Caminho gesammelt“, sagte die Französin, „aber noch keine Messe. Danke für die schöne Messe!“ Ich war gerührt. Wir luden sie ein, mit uns „Jésu le Christ“ zu singen. Sie lernte durch uns Taizé kennen.
Freimut: Doch dann ging es weiter. „Immer weiter“ ist seit jeher die Devise der Pilger. Mir hat dieser Rhythmus gut getan: Morgens zusammenpacken, alles, was uns gehört, in die Rucksäcke, hinter sich die Tür der Herberge zuziehen – und dann los. Unterwegs sein so lang und so weit, bis uns am späten Nachmittag eine andere Herberge aufnehmen würde. Wir mussten uns morgens nicht fragen: Was wollen wir denn heute mal unternehmen? Nein, seit Tagen, Wochen stand das Ziel und damit der Weg fest. Oder war der Weg vielleicht auch das Ziel? „Immer weiter“ bedeutet: Eine Zeit lang ohne festen Wohnsitz, Leben ohne Rückzugsort …
Maren: … aber mit einem Tagebuch im Rucksack. Seit langem war für mich einfach mal wieder Zeit zu schreiben, einfach so, ohne dienstliches Ansinnen. So wanderte meine Seele mit. Denn die Tagebuchzeilen halfen mir, diese kostbare innere Seele zum Sprechen zu bringen. Sie durfte sich öffnen wie eine Muschel, die eine kostbare Perle birgt.
Freimut: Anfangs haben wir unseren „Tagesbeginn“ noch zum Tagesbeginn gemacht: Morgens an der ersten Kapelle oder Kirche angehalten, ein windgeschütztes Sonnenplätzchen gesucht und dort gelesen, gesungen und gebetet. Und immer wieder hatten wir dann den Tag über Anstöße und Themen, über die wir unterwegs sprechen konnten. Wie schön ist es, im Gehen miteinander zu reden! Immer in Bewegung, mit viel Luft, Raum und Natur um sich herum, plötzlich sieht man etwas, das die Aufmerksamkeit auf sich und vom Gespräch abzieht, dann wieder Anknüpfen … Und so konnten wir sehr fröhlich und auch sehr ernsthaft miteinander reden und Dinge besprechen, für die zu Hause noch nie Zeit und Platz war. Da war es gar nicht schlimm, dass der „Tagesbeginn“ an manchen Tagen auch mal bis in den Nachmittag rutschte.
Maren: Da waren sie dann meist zu entdecken, die Heiligen, die den Pilgerweg prägen: vor allem Maria bleibt mir in lebendiger Erinnerung: als Mutter in lieblicher Hirtenidylle mit ihrem Jesus-Jungen mit dem Hirtenstab in der Hand. Aber auch Maria im schwarzen Trauermantel, wie sie um ihren verstorbenen Jungen weint. Maria trug zuweilen auch ein weißes Gewand – als weiße Dame soll sie einst drei Hirtenjungen in dem portugiesischen Ort Fatima erschienen sein. Mich haben diese Mariendarstellungen sehr berührt, zugleich in ihrer Heiligkeit und Göttlichkeit als auch in ihrer mitfühlenden Mutterschaft und einfachem Menschsein.
Freimut: Aber wir sind ja auch lebenden Menschen begegnet, ganz vielen und ganz tollen sogar. Einmal hatten wir gerade einen kleinen Ort verlassen und setzten uns für das Mittags-Picknick an ein Mäuerchen, da kam ein älterer Herr aus einem Waldgrundstück und rief zu uns, ob wir Hilfe brauchten. Nein, vielen Dank, riefen wir zurück, wir haben nur etwas gegessen! Und daraufhin er: Ob wir denn einen Kaffee trinken möchten.
Und das war wunderbar: Auf dem Grundstück stand nur ein großer Tisch mit Bänken für schöne Familienfeiern und dabei ein kleiner Schuppen mit dem Nötigsten – eben auch einer Espressomaschine. Beim Kaffee erzählte das Ehepaar auf Französisch und Portugiesisch von seiner Kindheit in bitterer Armut und von ihren musikalischen Kindern und Enkeln. Und wir erzählten von unserer Pilgerreise, unserer Familie und unserer sächsischen Heimat.
Maren: Einmal saßen wir am Wegesrand, meine einzige Blase des ganzen Pilgerweges galt es fachmännisch zu verpflastern. Da brachte uns ein altes Mütterchen, schwarz grau eingekleidet, drei leuchtende Orangen. Sie entschuldigte sich, dass sie meinen Mann nicht gesehen hatte. So kam sie wenig später, nachdem ihre Schafe schon neugierig an uns geschnuppert hatten, und brachte weitere drei Orangen. „Obrigada“, danke, sagte ich und die alte Frau lächelte.
Freimut: Im sehr kleinen Vorgärtchen eines sehr kleinen Häuschens standen wundervolle Blumen, von denen ich zwei, drei Fotos machte. Da öffnete sich die Tür, ein anderes altes Mütterchen stand neben mir. Sie begann Spanisch oder Galizisch zu mir zu sprechen und dabei zwei, drei Büschel der Pflanzen mit Zwiebel aus dem Boden zu ziehen. Für die Zwiebeln holte sie einen Beutel herbei, die Blütenstengel, die wir abgeschnitten hatten, befestigten wir an meinem Rucksack. Ihr Sohn, erzählte sie, lebt in Madrid und kommt nur selten. Sie selbst verlässt ihr Dorf eigentlich nicht. Ich vermute, sie freut sich daran, dass auf dem Jakobsweg die Welt zu ihr an den Gartenzaun kommt.
Maren: „Immer weiter“ war über viele Tage die Devise, jeden Morgen Rucksack packen und weiterziehen. Aber mit einem Mal war es dann so weit – die Kilometerangaben auf den Meilensteinen wurden einstellig. Da ruhte sie in der Ferne – aus dem Waldrand kommend erblickten wir sie – die Kathedrale von Santiago de Compostela.
Nach der Ausstellung unserer Pilgerurkunde trafen wir Gerry und Ranae aus den USA wieder. „Ich weiß, warum wir beide immer so langsam sind“, hatte mir Ranae vor einigen Tagen noch gesagt, „weil ich immer stehen bleibe und so viele Fotos mache.“ – Die beiden waren mit ebenso viel Zeit und Ruhe unterwegs gewesen wie wir beide.
Wir tranken gemeinsam einen Sangria und die beiden luden uns herzlich zur Messe am darauffolgenden Abend ein – mit dem berühmten „Botafumeiro“, dem Schwenken des großen Weihrauchfasses.
„Wenn ihr in Santiago de Compostela ankommt, dann umarmt den Heiligen Jakobus von uns“, hatte mir meine Tante geschrieben. Dem Heiligen Jakobus wie einem Kumpel auf die Schulter klopfen, auch das war für mich eine Heiligenbegegnung besonderer Art. Er bringt Menschen aus aller Welt zusammen, er ermöglicht so wunderbare Begegnungen. Nach Tagen des Aufbrechens erfahren Ankommen und Bleiben eine ganz neue Bedeutung.
Freimut: Auf dem Camino sind wir alle Geschwister. Da treffen sich Junge und Alte, Unsportliche und Fitte, es interessiert nicht, wieviel jemand verdient oder wie gebildet jemand ist, wie begabt, erfolgreich, sozial anerkannt. Da gehen alle gemeinsam und sind ganz schnell im Gespräch miteinander. Die erste, die uns diese, ihre Erfahrung so klar mitteilte, war Yvonne, eine ganz besondere Frau, abends in gemütlicher Runde beim Wein im Garten der Casa Fernanda. Und das ist auch uns so wertvoll geworden! Manche von ihnen haben wir irgendwann wiedergetroffen, mit einigen hatten wir Chat-Kontakt bis zuletzt, wir haben Anteil aneinander genommen, wie man das eben macht in einer Familie. Und so war es ganz vieles, das uns diesen Pilgerweg zu einem „buen Camino“ gemacht hat.
Maren und Freimut Lüdeking