Samstag, 02. Dezember 2023

"Menschwerdung" in der Kunst?

Ein Blick auf Ernst Barlachs "Schwangeres Mädchen"

Pfarrer Christof Heinze

Vor uns steht keine heilige Jungfrau. Vor uns steht ein schwangeres Mädchen, ein Menschenkind, das sich schützend verhüllt, und das Leben, das in ihr heranwächst. Das sein Kind vermutlich in Armut und Not gebären wird und die Blicke auf sich spürt, die urteilen und bewerten. Müde sieht sie aus und erschöpft, die Augen sind geschlossen.

Anna, das ledige Hausmädchen des Bildhauers Ernst Barlach (1870-1938) erwartete 1922 ein Kind. Es entstanden mehrere Zeichnungen, und im April schreibt er an seinen Bruder Hans: „Anna ist hochschwanger fortgegangen, Frl. Doege (Barlachs Haushälterin) hat, wie sie glaubt, einmal ihren Kerl bei uns im Bett liegen sehen. Nun wird sie ihrer Mutter zu den anderen unehelichen Kindern ihrer Schwestern ein drittes bescheren“. Die ungewollte Schwangerschaft und die ungewisse Zukunft von Mutter und Kind haben den Bildhauer so sehr berührt, dass im weiteren Verlauf des Jahres auch diese Holzfigur entstand, die seit 2021 als Neuerwerbung im Dresdner Albertinum zu sehen ist. Link zum Bild "Schwangeres Mädchen"

Schon im Dezember 1911 hatte Barlachs Freund und Verleger Reinhard Piper ihm in einem Weihnachtspaket unter anderem vorab ein Exemplar von Wassily Kandinskys Schrift „Das Geistige in der Kunst“ (1912) geschickt. Darin hatte Kandinsky den Gedanken entwickelt, erst in der abstrakten, vom Gegenständlichen befreiten Malerei könnten Farben
und Formen ihr eigenes Wesen am besten entfalten. Barlach konnte diesen Weg nicht mitgehen. Ihm ist das Mitgefühl wichtig. Mit geometrischen Zeichen könne er weder leiden noch fühlen.

Postwendend hat er am 28.12.1911 an Piper geschrieben: „Wenn ich ein seelisches Erlebnis nachfühlen soll, so muss es eine Sprache sprechen, in der ich das Tiefste und Verborgenste nacherleben kann, und meine künstlerische Muttersprache ist nun mal die menschliche Figur oder das Milieu, der Gegenstand, durch das oder in dem der Mensch lebt, leidet, sich freut, fühlt, denkt. Darüber komme ich nicht hinaus“. Ob Barlach kurz vor seinem 41. Geburtstag zu Weihnachten in der Kirche war und dort gehört hat: „Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns“? Wir wissen es nicht. Was er im Blick auf Kandinsky geschrieben hat, erinnert aber an die Worte des Theologen und Religionsphilosophen Romano Guardini (1885-1968) zu dieser Stelle des Johannesevangeliums: „Echter Geist ist verleibt. Den reinen Geist gibt es in unserem Existenzbereich nicht“. Barlach hätte ihm wohl zugestimmt.
Wenn ich an einen Gott glaube, der mit uns Menschen leidet, nicht erst am Kreuz, sondern schon in der Weise, wie Maria ihr Kind in Armut zur Welt bringt – dann sehe ich ihn hier. Ich sehe ein armes, schwangeres Mädchen, wie es durch das Herz eines Bildhauers und dann durch seine Hände ging. Die Figur ist Barlachs Muttersprache. Sie ermöglicht Mitgefühl. Die Seele selbst kann ich nicht sehen. Der Geist übersetzt sich aber ins „Fleisch“, und darin wird er sichtbar – in der Gestalt, in der Gebärde, im Gesicht. Wenn Gott Mensch wird und an unserer Seite leidet, der ja auch ohne uns sich selbst genügen könnte, dann begründet das den Geist des Mitgefühls und der Empathie unter uns Menschen – auch in den schwersten Zeiten, ohne Unterschiede und ohne Wenn und Aber.

Pfarrer Christof Heinze

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