Sonntag, 04. Februar 2024

Erkennen und erkannt werden

unscharfes Foto mit vielen Fußgängern auf einem Fußgängerzebrastreifen

Erkennen und erkannt werden

Montagmorgen. Ich bin viel zu früh in der Stadt. Zeit für einen Kaffee vor meinem Termin. In der Markthalle setze ich mich, klappe den Rechner auf und brüte über einem Text. Menschen kommen und gehen. Ich tippe und sinne und blicke dabei versonnen auf die Passanten. Plötzlich bleibt mein Blick an ein paar sehr bunten Schuhen hängen. Ich blicke an der Frau nach oben und staune über ihren ansonsten edlen Auftritt. Fasziniert wandern meine Augen an ihr wieder herunter - zurück zu den Schuhen. Und während ich noch darüber nachdenke, wie das alles zusammen passt, verändert sich ihr Blick. Ihre Augen fokussieren mich. Ich zögere kurz. Soll ich den Blick erwidern? Da höre ich sie schon sprechen: „Annegret!“

Unser Christsein lebt auch davon: erkennen und erkannt werden. Nur, dass sich dieses Erkennen in Glaubensdingen nicht zwischen zwei Personen auf der Straße ereignet, sondern zwischen mir und einem Bibelworte, einer Liedstrophe oder einem Gebet. Manchmal erst nach Jahren tritt oft unerwartet der Moment ein und der Blick verändert sich und plötzlich ist sie da, die innere Einsicht: Was da steht, hat ja mit mir zu tun. Mein Leben kommt in diesen Worten vor. Persönlich angesprochen - beim morgendlichen Kaffee und beim Bibellesen.

Wenn von der Zukunft unserer Kirche gesprochen wird, werden oft düstere Prognosen aufgerufen. Wie wird unsere Kirche aussehen in 50 oder 100 Jahren? Ich bin so neugierig, was das angeht. Wenn man mal auf die Taufen schaut, dann ist das so, als würde man ein Fenster in die Zukunft öffnen: Während in der Friedenskirchgemeinde vor 100 Jahren, also 1922, 269 Kinder getauft wurden, waren es 2022 gerade mal 38. 20 bis maximal 40 Kinder taufen wir in einem Jahr.

Was früher für viele eine feste Tradition war, ist heute in vielen Fällen abhängig von persönlichen Überzeugungen. Das eingangs beschriebene „erkennen“ und „erkannt werden“ wird immer wichtiger.

Die Schulfreundin, die vor 30 Jahren meine Banknachbarin war, hatte ich 27 Jahre nicht mehr gesehen. Auch wenn es manchmal so aussieht, als würde man einander gar nicht mehr kennen, kann es doch immer zu einem Wiedersehen kommen und vielleicht ist die Begegnung dann auch von anderer Qualität, gesättigt von Lebenserfahrungen, inniger, tiefer, erkenntnisreicher. Warum soll es in Glaubensdingen nicht auch dieses Wiedersehen geben…?

Pfarrerin Annegret Fischer

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